Maria Stoyanova, bisherige Korrespondentin aus Bulgarien, findet den Begriff befremdend und diskriminierend
Als die Mauer in Berlin fiel, war ich 15 und ging auf ein deutschsprachiges Gymnasium in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens. Damals hieß die Schule "Karl-Liebknecht-Gymnasium". Am Eingang stand in großen Buchstaben sein "Trotz alledem!" Die Hymne unserer Generation war "Personal Jesus" von Depeche Mode. Wir sangen voller Inbrunst: "'Your own personal Jesus!" In der Schulpause haben wir die BRAVO gelesen. Es gab immer einen Vater, der von seiner Dienstreise in der BRD oder Österreich eine neue Ausgabe mitgebracht hatte. Dann haben wir alle darin gelesen und danach die Ausgaben wie die Bibel gehütet. Aus der damaligen Zeit habe ich immer noch ein paar BRAVO-Ausgaben zu Hause. So wuchsen wir auf - zwischen Liebknecht und Depeche Mode und mit einer BRAVO in der Hand. Als die Mauer fiel, waren wir froh, endlich mit der Welt zu verschmelzen. Wir waren fest überzeugt, die Wende erfolgreich überstanden zu haben und deswegen noch besser und stärker als die Gleichaltrigen aus dem Westen zu sein. Wir alle haben damals vor Selbstbewusstsein nur so gestrotzt!
Während meiner Studienzeit in Österreich absolvierte ich ein Praktikum beim größten europäischen Autobauer. Ich war so stolz darauf, dass ich dort am liebsten nicht nur die Tage, sondern auch die Nächte verbracht hätte. Schließlich war ich die erste Bulgarin dort überhaupt! Bis eines Tages ein wirklich netter Kollege mich fragte, welche Sprache in Bulgarien gesprochen wird. Bitte, was?! In diesem Weltkonzern weiß man so was nicht?! Oder hat sich die Allgemeinbildung dieser Kollege wegen der Konzentration auf Sachthemen verschlechtert?
Später, als ich nach Berlin ging und Korrespondentin des Bulgarischen Fernsehens wurde, stellte ich fest, dass viele dort auf Sachthemen konzentriert waren. Deswegen haben sie den Begriff „Osteuropa“ oft benutzt. Mir wurde eine neue Identität zugelegt – Osteuropäerin. Damit konnte ich nichts anfangen. Zu genau wusste ich, wie viele Klischees und Vorurteile dahinterstecken. Über mich wusste ich, dass ich Bulgarin bin, dass ich aus dem Balkan komme und dass ich eine Europäerin bin. Jeder besitzt doch mehrere Identitäten. Aber Osteuropäerin, das war mir neu und fremd.
Warum sollte dieser Begriff nach der Wende hervorgehoben werden? Mit dem Terminus „Osten" bzw. „Ostblock" wurden die kommunistischen Staaten bezeichnet. Seit spätestens 1991 war die Ära des Kommunismus vorüber. Wir lebten alle in einem vereinten Europa.
Der EU-Beitrittsprozess hat ewig lang gedauert und war steinig und schwer. Die Wiederaufnahme in die europäische Familie war es wert. Warum brauchen wir dann verbale Teilung? Diese Frage habe ich fast allen relevanten Politikern immer und immer wieder gestellt. Guido Westerwelle, Gott hab' ihn selig, hat mich sofort verstanden. Noch als Anwärter für das Amt des Außenministers Deutschlands hat er diesen Begriff als herabwürdigend verstanden und nie wieder benutzt.
Zum 30. Jahrestag des Mauerfalls aber ist der Ausdruck wieder präsent und sogar weiterentwickelt. Die Polizeidirektion Main-Taunus z. B. informierte jüngst über Betrüger mit "osteuropäischem Aussehen". Und die Stabsstelle Öffentlichkeitsarbeit des Polizeipräsidiums Mannheim schrieb in einer Pressemitteilung sogar "osteuropäische Sprache".
Bei einer Presskonferenz, organisiert in einer Parteizentrale in Berlin, sprach die Parteivorsitzende mit den Auslandskorrespondenten ebenfalls über Osteuropa. Ich sah meine Kollegin und Landsmännin fragend an. Aus ihrer Sicht hat die Parteichefin nicht Bulgarien gemeint. Schon klar, aber wen dann?
Dieses Osteuropa kann wirklich sehr verwirrend sein. Deswegen wäre es vielleicht hilfreich, die Ländernamen der neuen EU-Mitgliedstaaten zu lernen. Es handelt sich schließlich nicht um ein homogenes Gebilde. Das sogenannte Osteuropa umfasst verschiedene Länder, mit eigenen Sprachen, kulturellen Unterschieden, abwechslungsreichen Geschichten und Geographien. Viele Bürger dieser Länder sind Europäer aus Überzeugung. Sie wären dankbar, wenn auch die existierenden Probleme direkt beim Namen genannt würden. Nur so wird Europa wieder mit zwei Lungen atmen, wie Papst Johannes Paul II. einst gefordert hat. Trotz alledem!